Reine Nervensache!

In unserer Zeit bestimmen für die meisten Menschen eine Vielfalt an Rollen, Aufgaben, Kontakten, Aktivitäten und Terminen den Alltag. Es ist eine Herausforderung, sich nicht zu „verzetteln“, die innere Ruhe zu bewahren und nicht unter Druck zu geraten. Dann sagen wir, wir fühlen uns „nervös“ oder „die Nerven liegen blank“. In diesem Beitrag stelle ich Möglichkeiten vor, wie du mit Stress konstruktiv umgehen und deinem Nervensystem Gutes tun kannst.

Bevor wir zu den praktischen Tipps für den Alltag kommen, ein kurzer Ausflug in die Theorie:

 

Welche Aufgaben hat unser Nervensystem?  Das Nervensystem des menschlichen Organismus kann grob in zwei „Aufgabenbereiche“ unterteilt werden.

 

1. Die Aufnahme von Reizen aus unserer Umgebung, ihre Verarbeitung im Gehirn und die Initiierung einer passenden Antwort auf diese Reize in Form einer Handlung.
Dafür ist unser somatisches Nervensystem verantwortlich. Zu ihm gehören alle unsere Sinnesorgane: die Ohren, die Augen, Nase, Geschmackssinn, Gleichgewichtssinn, Tastsinn und der Bewegungssinn, der uns Information über unsere eigene Haltung, unseren Muskeltonus und unsere Bewegung gibt. Die Sinnesorgane haben Leitungsbahnen zum Gehirn, wo alle Reize auf komplexe Art und Weise verarbeitet, verglichen und eingeordnet werden – diesen Vorgang nennt man Wahrnehmung. Wir können von einem „Kreislauf“ sprechen, wenn anschließend die verarbeitete Information in eine sinnvolle, angemessene Handlung umgesetzt wird.

2. Die Regulierung der inneren Reaktionen auf diese Reize und die Erhaltung eines Gleichgewichts zwischen Stimulation und Regeneration.
Diese Aufgaben übernimmt das vegetative Nervensystem. Wir kennen hier den Zweig des Sympathikus, der es übernimmt, dass wir unsere Aufmerksamkeit wach nach außen richten können, der aber auch in Aktion tritt, wenn wir gestresst sind, wenn Situationen unerwartet, bedrohlich oder überfordernd auf uns wirken. Den anderen Part im Vegetativum übernimmt der Zweig des Parasympathikus. Diese Funktion gibt uns Informationen über innere Körperzustände, ist zuständig für unser „Bauchgefühl“, sorgt dafür, dass Nahrung verdaut wird, dass wir tief atmen, dass Herzschlag und Blutdruck Entspannungsphasen erreichen, dass wir einschlafen und uns in Tiefschlafphasen regenerieren können.

Diese beiden Bereiche des Nervensystems sind eng verwoben mit unserem Hormonsystem und ebenso mit dem Immunsystem. Es bestehen ständige Kommunikation und weitreichende Wechselwirkungen innerhalb des Organismus. Die gelingende Kommunikation zwischen diesen Lebensfunktionen ist das, was wir „Gesundheit“ nennen.


Wodurch wird das Nervensystem belastet?

Was ist Stress?
Stress entsteht dann, wenn die Verarbeitung von Reizen, ihre Einordnung und ihre Umsetzung – der oben beschriebene Kreislauf also – nicht mehr im Fluss sind. Bei einer Überzahl an Reizen kann das Gehirn bestimmte Reize zum Teil nicht mehr zuordnen. Es schafft es nicht mehr, Hintergrundreize (wie Lärm oder Bildschirmflimmern) auszublenden, Prioritäten zu setzen, Handlungen zu Ende zu führen.

Dieser Zustand von Überlastung – das „zu viel“ ­­­– kann sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar machen: der Kopf fühlt sich voll an, eventuell haben wir auch Spannungskopfschmerz. Die Bewegungen werden unkoordiniert und fahrig – wir stolpern oder stoßen uns an Möbeln, schneiden uns beim Kochen in den Finger, Gegenstände rutschen in der Hast aus der Hand und fallen zu Boden. Wir vergessen beinahe, zu atmen. Die Atmung ist verhalten und flach.

Wenn es in der Vergangenheit Prägungen in Bezug auf Leistungsdruck oder Versagensangst gab, kann nun die emotionale Ebene dazukommen, die den erlebten Stress erhöht. Bei manchen setzen zusätzlich die instinktiven Überlebensreaktionen ein, die wir am Weg der Evolution von unseren tierischen Vorfahren geerbt haben: Flucht, Angriff und Totstellen lassen uns in Situationen, die das Nervensystem als gefährlich einschätzt, überleben. Die vegetativen Reaktionen sind: Schweißausbrüche, Herzrasen, Kurzatmigkeit, Gefühl von Gelähmtsein oder im Gegensatz dazu ein Aufbrausen, das von Wut begleitet ist. Die Stimme wird meist hoch, schrill und laut.


Was tut den Nerven gut? Anti-Stress-Medizin im Alltag

Ordnung: Differenzieren und Integrieren

Unser Nervensystem ist dafür da, Ordnung im Informations(über)fluss zu schaffen. Gleichzeitig liebt es Ordnung. Diese entsteht unter anderem durch Differenzierung, wenn der Stress sich zu einem undurchdringlichen Bündel zusammenballt. Da kann es helfen, für sich zu klären: welche Art von Stress habe ich gerade? Was stresst mich gerade am meisten?

Hier eine Checkliste, um die einzelnen Fäden aus dem Stressbündel herauszuziehen, zu entwirren und möglicherweise auch zu lösen:

  • Geht es um Leistungsstress? Habe ich das Gefühl, einer Aufgabe nicht gewachsen zu sein oder zu wenig Zeit zu haben?
  • Habe ich emotionalen Stress? Gibt es Unstimmigkeiten und Konflikte in Beziehungen? Mit meinem Partner bzw. meiner Partnerin, mit den Kindern oder Eltern, im Kollegenteam oder mit der Vorgesetzten….
  • Habe ich mentalen Stress? Versuche ich, zu viele Details in meinem Kopf zu behalten, zu viele Verantwortlichkeiten unter einen Hut zu bekommen?
  • Fühlt sich mein Nervenkostüm aufgrund von Reizüberflutung aufgerieben an? Zu viel Lärm, zu viele Menschen, zu viel in Bewegung, zu viele Informationen aller Art …
  • Gibt es einen kollektiven Stress, der mich persönlich auch berührt? Die Pandemie mit all ihren Auswirkungen ist da ein gutes Beispiel. Auch die Szenarien einer drohenden Klimakrise oder Berichte über internationale Krisenherde in der Welt. All das kann meine Kapazität, innerlich zu ordnen, zu integrieren und angemessen zu handeln, auf die Probe stellen.


Rhythmus: Pausen und Übergänge

Urlaub ist die Zeit im Jahresrhythmus, wo wir Abstand bekommen, den Kopf frei machen, den Körper entspannen oder genussvoll durchbewegen. All das nützt unser Nervensystem, um in Balance zu kommen. Solch einen „Urlaub“ braucht unser Organismus allerdings täglich, um auf Dauer resilient, das heißt sowohl leistungsfähig als auch entspannungsfähig, zu bleiben.

Für nachhaltige Nervengesundheit braucht es die kurzen Pausen des Alltags: Fünf bis zehn Minuten bewusstes Innehalten und Durchatmen. Das kann das Sitzenbleiben nach dem Mittagessen sein bevor die Küche aufgeräumt wird. Oder das Glas Wasser auf dem Balkon zwischen der einen und der anderen Aufgabe, die zu erledigen ist. Bewusst die Stimmung des Himmels, das Wolkenspiel oder die Färbung des Laubs an den Bäumen wahrzunehmen führt unsere Aufmerksamkeit weg vom eigenen Gedankenkreisen und der To-do-Liste ­… hin zu mehr Achtsamkeit im Moment. Für uns selbst und unsere Umgebung. Wollen Sie sich das gönnen? Jeden Tag einmal oder zweimal?

Damit Sympathikus und Parasympathikus gut zusammenspielen können, braucht es bewusste Übergänge zwischen Aktivitäts- und Ruhephasen. Da kann sich jede und jeder fragen: was brauche ich am Morgen um gut in den Tag starten zu können und aktiv zu werden? Für die einen ist es eher die Stille, eine kurze Meditation, die Ruhe beim Kaffee, für die anderen ist es Morgengymnastik, ein Spaziergang mit dem Hund, schwungvolle Musik aus dem Radio.

Ebenso ist am Abend ein bewusster Übergang aus der Aktivität des Tages in die Ruhephase wichtig. Übergänge fördern unsere Fähigkeit, einzuschlafen und in erholsame Tiefschlafphasen zu kommen. Wieder gibt es keine pauschalen Empfehlungen: die einen „putzen ihr Nervensystem durch“ indem sie zum Abschluss des Tages Joggen gehen oder einen Zumbakurs besuchen. Die anderen brauchen das „Runterfahren“: gemütliche Zeit am Sofa oder auch unspektakuläre, intellektuell leicht zu meisternde Arbeiten wie Wäsche zusammenlegen, Geschirr spülen, leichte Gartenarbeiten. Aus dem Kopf „in die Hände“ zu kommen, ist hier hilfreich.

 

Im „Flow“ sein

In der Körperarbeit ist die Qualität von Fluss und Fließen ein Schlüssel für Gesundheit. Gute Durchblutung aller Körpergewebe, ein freier Fluss der Lymphe, ein lebendiges Gefühl durch in Schwung gebrachte Lebensenergie… es gibt viele Beispiele in unserem Organismus, wo Bewegung und Fließen Ausdruck der gesunden Funktionen sind. Für die Nerven gilt das ebenso.

Nicht zu unterschätzen ist die belastende Auswirkung von zurückgehaltenen Emotionen. Wenn wir emotionale oder physische Anspannung in uns spüren, hilft Spannungsabbau in dem wir zum Beispiel den ganzen Körper durchschütteln oder zittern lassen, Seufzen, Stöhnen, Singen, freies Tanzen, am Trampolin springen … da gibt es viele Möglichkeiten!

Eine kostenlose Medizin, die wir immer in uns zur Verfügung haben, ist unsere Atmung. Angehaltene Atmung erhöht Spannung sowohl im Bewegungsapparat also auch im Nervensystem. Vor allem die verlängerte AUSATMUNG hat heilsame Wirkung. Nach Luft zu ringen oder zu schnappen erhöht die Spannung eher. Es ist wissenschaftlich messbar, dass die Phase der Ausatmung unseren Herzschlag verlangsamt, die Einatemphase beschleunigt ihn. Noch intensiver ist die beruhigende Wirkung, wenn wir das Ausatmen mit der Stimme begleiten. Ein leises Summen oder Brummen, eine Melodie, die uns gerade einfällt … das stimuliert unseren Vagusnerv, den wichtigsten Vertreter des Parasympathikus.

Ich wünsche gute Nerven!